7.5.06

Ist der "Herr der Ringe" apokalyptisch?

Bei oberflächlicher Lektüre des vorherigen Beitrags über die "Apokalyptische Matrix" könnte man versucht sein, den "Herrn der Ringe" als apokalyptisch zu betrachten. Auf den ersten Blick ergeben sich einige Parallelen: Ein "Dämon" namens Sauron versucht, zusammen mit seinem "Assistenten" Saruman, die Herrschaft über Mittelerde an sich zu reißen. Dabei arbeiten er und seine Helfershelfer durchaus mit "Vorspiegelungen, Betrug, Hinterhältigkeit, Manipulation, Terror und Mord", wie etwa das Verhalten Grima Schlangenzunges gegenüber König Theoden beweist. Kurz bevor Sauron sein Ziel erreicht, gelingt es den "Guten" (Menschen, Elben, Zwerge, Hobbits und Ents), sich zusammenzuschließen, wobei man Gandalf in der Rolle des "Militanten Messias" sehen könnte (Gandalf wird sogar wiedergeboren als "Gandalf der Weiße"!). Sie verhindern zuerst den Angriff auf Helms Klamm, dann greifen sie Isengart an und schalten Saurons Haupthelfer Saruman aus. Bei der Endschlacht um Minas Tirith wird Saurons Angriff erfolgreich abgewehrt, anschließend werden durch die Zerstörung des Rings in der Schicksalskluft des Orodruin (Mt. Doom) Sauron und seine Helfershelfer zum größten Teil vernichtet.

Wenn man aber die Vorgeschichte des "Herrn der Ringe" mit einbezieht, so bricht diese Weltsicht schnell zusammen. Bereits im "Herrn der Ringe" selbst wird darauf hingewiesen, dass Sauron bereits schon einmal - zum Ende des Zweiten Zeitalters - einen Anlauf zur Weltherrschaft unternahm, und damals am Orodruin gestoppt wurde. Liest man das Silmarillion, so entdeckt man, dass Morgoth, Saurons Lehrmeister, vorher ebenfalls zwei Anläufe unternahm, Mittelerde zu erobern, und beide Male scheiterte. Mit anderen Worten: wir haben es mit einem Zyklus zu tun: das Böse greift nach der Weltherrschaft, die Guten schließen sich zusammen, besiegen das Böse, das Böse (entweder der alte "Bösewicht" oder sein Nachfolger) rappelt sich erneut auf usw. Der "Herr der Ringe" vertritt also ein zyklisches Weltbild. Die "Apokalyptische Matrix" dagegen spricht von einem Endzustand, mit dem die Welt und damit die Weltgeschichte endet. Das ist ein wesentlicher Unterschied,

Tolkien wurde, was diesen Aspekt seines Universums betraf, mit großer Wahrscheinlichkeit von der Edda (genauer: von der Völuspa) beeinflußt. In der Völuspa ist von Ragnarök die Rede, dem "Götterschicksal" (der Begriff "Götterdämmerung" ist eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Fehlinterpretation). Auch nach Ragnarök geht es weiter mit einem "neuen Himmel und einer neuen Erde" - und neuen Göttern, abgesehen von Baldur. Und auch diese neuen Götter, davon ist auszugehen, werden eines Tages enden. Deswegen kann man Ragnarök nicht mit einem Weltuntergang alla "Apokalyptische Matrix" gleichsetzen. Interessanterweise ist der konservative Katholik Tolkien hierin von der offiziellen Lehre seiner Kirche abgewichen, während andere Elemente des "Herrn der Ringe" (Illuvatar etwa als "Gottvater", die Maiar als "Engel") durchaus "christentumkompatibel" sind.