21.7.06

Der Hungerkünstler und der Kommerz-Vorwurf


Bereits mehrmals habe ich in diesem Weblog über den elenden "Kommeeeerz!"-Vorwurf geklagt, der immer wieder erhoben wird, sobald ein Künstler (endlich) erfolgreich ist. Karan hat ihn gefunden: Die Ursache liegt in dem in Deutschland immer noch gepredigten Idealbild des "Hungerkünstlers":
Der arme Poet ist sozusagen der Sündenbock für den Spießbürger, der sich mit Idealen eben gar nicht erst abgibt, lieber dem armen Künstler einen Brosamen hinwirft anstatt ihm ein ordentliches Honorar zu zahlen, und ihn dafür als Stellvertreter benutzt, der für ihn denkt, schreibt, singt, tanzt, malt und spielt.
Mit dem erfolgreichen Künstler kann der Spießbürger das nicht mehr machen, darum wird der eben gleich als "verflacht" oder "vom Geld verdorben" abgelehnt.
Andererseits werden die Werke des erfolgreichen Künstlers irgendwie doch gekauft, sonst wäre er ja nicht erfolgreich.

Der Künstler als Stellvertreter - teilweise geht das noch weiter. Mir fällt gerade auf, dass in den Medien immer wieder berichtet wird über angebliche (oder echte - das aber seltener) sexuelle Exzesse bzw. Drogenexzesse von Musikern und Schauspielern. Ich vermute, dass diese Berichte deswegen so erfolgreich sind, weil der Spießbürger die Künstler um die (vermutete) Freiheit beneidet. Der Musiker oder Schauspieler lebt also (angeblich) das aus, was der Spießbürger gerne tun würde, sich aber nicht traut. Man könnte also Karans Gedanken um eine bösartige weitere Dimension ergänzen: "Der Spießbürger benutzt den Künstler als Stellvertreter, der für ihn fickt und Drogen einwirft." Im krassen Gegensatz dazu stehen übrigens die meisten Boygroups, die oftmals als moralische Supersaubermänner dargestellt werden: kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex, nur Milch trinken. Auch hier liegt eine Stellvertreterfunktion vor: Der Künstler, der stellvertretend für den Spießbürger ein "reines" Leben lebt - womit wir wieder bei Karans Originalgedanken wären.
Die Herausforderung läge darin, der Kunst und ihren Ausdrucksformen einen Wert beizumessen, der sich auch (!) in finanzieller Hinsicht niederschlägt, und gleichzeitig die Fallen marktwirtschaftlicher Beurteilung und (spieß-)bürgerlicher Verurteilung zu vermeiden.
Eine Kulturgesellschaft stellt sich dieser Aufgabe und bewältigt sie so gut wie möglich. Eine Merkantilgesellschaft bedient sich bestenfalls des Vorwandes, eine Kulturgesellschaft zu sein und handelt nach den Regeln der Wirtschaft, womit die Kunst endgültig zur Ware, der Künstler zum Industriearbeiter oder zum Hungerkünstler wird.
Wie man das erreichen kann, ist mir unklar. ich müßte mal die Geschichte bemühen, ob irgendeine Kultur der Vergangenheit das geschafft hat.