3.7.03

Paranoia oder Das Böse ist immer und überall Teil 2

Paranoide Episoden wie die oben geschilderte zeigen gewöhnlich eine
schrittweise Entwicklung vom leisen Verdacht und Mißtrauen bis hin zu
massiven Wahnvorstellungen und voll ausgebildeten Halluzrnationen. Am
Anfang mag nur das vage Gefühl stehen, daß die normale Welt ein wenig
von ihrer Normalität verloren hat. Langsam und kaum merklich
schleicht sich ein Verdacht ein. Halluzinierte Bilder und Geräusche
bestätigen diesen Verdacht. Gewöhnlich entwickelt sich dieser Zustand
über Monate oder Jahre hinweg. Unter dem Einfluß bestimmter Drogen
wie Kokain oder Metamphetamin kann sich der Verlauf auf wenige
Stunden verkürzen. Doch ob mit oder ohne Drogen, die Paranoia ist
dieselbe.
Wirklich erschreckend ist der Gedanke, daß wir alle die Wurzeln der
Paranoia in uns tragen – und dieser Gedanke ist in der Tat
geeignet, uns alle in einen vollentwickelten paranoiden Zustand zu
versetzen. Der »paranoide Zug«, von dem der Philosoph Arthur Koestler
spricht, ist untilgbarer Teil der menschlichen Natur Es wird wohl
schon ein jeder einmal das beängstigende Gefühl gehabt haben, da
draußen sei etwas, das auf ihn warte und es auf ihn abgesehen habe.
Dunkelheit und Einsamkeit begünstigen das Aufkommen dieses Gefühls.
Viele haben solche Erlebnisse, wenn sie nachts allein im Haus sind
oder im Dunkeln eine unbekannte Straße entlanggehen. Andere mögen
gelegentlich das unbestimmte Gefühl haben, ihr Lebensweg werde von
Neidern bedroht, die sie beim Namen nennen können oder aber gar nicht
kennen. Das Wesen, das wir alle fürchten, der Dämon Paranoia, ist
nicht »da draußen«; er lauert im Dunkel unseres eigenen Gehirns.
Tief im Innern des Gehirns, unterhalb des »denkenden« Teils der
Großhirnrinde, befinden sich eine Neuronengruppe und
hormonproduzierende Strukturen, die wir das limbische System nennen:
das neurophysiologische Versteck des Dämon Paranoia. Seit mehr als
zweihundert Millionen Jahren begleitet es unsere Evolution. Dieses
hufeisenförmige Areal wird gelegentlich auch das »Säugetiergehirn«
genannt, weil es bei den Säugern am höchsten entwickelt ist. Ein
Glück für uns, denn das limbische System ist maßgeblich an der
Aufrechterhaltung wichtiger homöostatischer Prozesse wie der
Regulierung der Körpertemperatur beteiligt. Ohne das limbische System
glichen wir den Kaltblütern, etwa den Reptilien, die einen Großteil
ihrer Zeit darauf verwenden, zwischen Sonne und Schatten zu wechseln,
um ihre Temperatur zu regulieren. Außerdem steuert das limbische
System Reaktionen, die von großer Bedeutung für unser Uberleben sind,
zum Beispiel die Schutzmechanismen des Kampfes oder der Flucht. Ein
wenig verkürzt könnte man das limbische System durch vier wichtige
Überlebensfunktionen definieren: Fressen, Kampf, Flucht und
Fortpflanzung.
Die Schaltkreise im tiefer gelegenen Teil des limbischen Systems sind
ständig damit beschäftigt, unser Überleben zu sichern. Die höher
gelegenen Teile haben etwas mit unseren Emotionen zu tun. Elektrische
Erregung in den unteren Bereichen kann in den oberen Regionen Gefühle
auslösen. Spontan geschieht dies bei einem bestimmten Typus
psychomotorisch-epileptischer Anfälle, die den Patienten ein
unangenehmes Angstgefühl bereiten - ein rohes, primitives Gefühl, das
tief aus dem Körper kommt. Vielleicht wird das limbische System
deshalb gelegentlich auch das viszerale Gehirn genannt. Es fühlt. Wir
können diese Gefühle nicht abschütteln. Dann übernehmen die
»denkenden« Areale das Feld. Es kommt zu einer intellektuellen
Fixierung auf die Angstanwandlungen im tiefer gelegenen System. Die
Angst erzeugt eine Vorahnung und warnt vor drohenden Gefahren.
Bedrängt von dieser tiefsitzenden Angst sucht der Verstand nach
Erklärungen. Er gelangt zu dem Schluß, daß irgend etwas dich
verfolgt. Das Gehirn ist in die Fänge der Paranoia geraten.
Wenn der Dämon Paranoia Epileptiker befällt, verzerren sich ihre Züge
vor Furcht und sie bewegen hastig und ausweichend Kopf und Augen.
Neurophysiologen haben Elektroden ins Gehirn solcher Patienten
eingepflanzt und dabei festgestellt, daß in solchen Augenblicken
starke elektrische Ströme das gesamte limbische System durchfluten.
Dennoch gibt es keinen Beleg für die Annahme, neuropathologische
Abnormitäten wie Epilepsie wären die Voraussetzung für paranoides
Erleben. Tatsächlich können Neurologen mit elektrischer oder
chemischer Stimulation solche Reaktionen auch bei normalen Personen
auslösen. Die Forschung sagt uns etwas über die Hirnareale und die
neurologischen Mechanismen der Paranoia. Und sie zeigt, daß wir alle
dieselbe Grundausstattung geerbt haben.
Der Dämon des limbischen Systems war schon unserer Begleiter, lange
bevor wir zivilisierte Primaten wurden. Das dürfte auch der Grund
sein, weshalb das Gefühl Paranoia so uralt zu sein scheint. Es besaß
enorme Bedeutung für unser Überleben. Als die ersten Menschen aus
ihren Höhlen hervorkamen, lauerten allenthalben Gefahren auf sie.
Unfälle, Krankheit und Gewalt führten bei den allermeisten zu einem
frühen Tod. Die Paranoia wurde zu einem wichtigen
Anpassungsmechanismus, der das Überleben sicherte. Und so wurde sie
ein Teil von uns.
Hippokrates und andere griechische Ärzte hielten die Paranoia für
eine Krankheit von derselben Art wie die Epilepsie. Als Paranoiker
bezeichneten sie Menschen, die buchstäblich »daneben« oder nicht mehr
bei Verstand waren. Noch heute halten die meisten Psychiater die
Paranoia für eine Geisteskrankheit, auch wenn sie lieber von
»Störungen« sprechen. Doch solche Charakterisierungen sind
irreführend. Paranoid zu sein oder einen paranoiden Zug zu haben
bedeutet nicht notwendigerweise, daß man krank ist und einer
Behandlung bedarf. Ohne Zweifel gibt es hier ein Kontinuum, das von
milden paranoiden Anwandlungen bis hin zu einem heftigen,
psychotischen Bruch mit der Realität reicht. Es mag berechtigt sein,
paranoide Psychotiker wie Hitler oder Stalin krank oder gestört zu
nennen, doch für die vielen nichtpsychotischen Fälle, in denen der
alltägliche Streß zu leichteren Formen paranoider Anwandlungen führt
- also für die meisten von uns -‚ wäre diese Kennzeichnung
ungerecht. Immerhin gibt es wenigstens einen namhaften Vertreter der
heutigen Psychiatrie, der mit Vorliebe sagt, Paranoia sei
gelegentlich der beste Weg, mit dem Leben fertigzuwerden.
Das Wesen der Paranoia in all ihren Formen ist eine spezielle
Denkweise. Und das wichtigste Merkmal paranoiden Denkens ist das
Mißtrauen. Tatsächlich benutzen die meisten Menschen den Ausdruck
paranoid zur Kennzeichnung eines übertrieben mißtrauischen Menschen.
Doch das mißtrauische Denken eines Paranoikers ist mehr als normale
Vorsicht oder bloßer Argwohn, wie das Wort paranoid sie impliziert.
Die Dinge sind ihm buchstäblich suspekt, das heißt, sie nötigen ihn,
hinter die Dinge zu schauen, unter der Oberfläche nachzusehen, alles
einer genauen Prüfung zu unterziehen und nach Hinweisen zu suchen,
die sein Mißtrauen und seinen Verdacht bestätigen. Das erfordert
größte Aufmerksamkeit, ein Höchstmaß an Wachsamkeit und eine
Hypersensibilität für jedes noch so kleine Detail. Der Paranoiker
verbeißt sich in diese Details, bläht ihre Bedeutung auf und baut sie
dann in ein logisch-systematisches Muster ein. Während er seine
Umwelt absucht, revidiert er das Muster unablässig, um dessen
Glaubwürdigkeit abzusichern. Der Paranoiker wird rigide und
unflexibel. Er ist auf jede erdenkliche Bedrohung gefaßt. Mehr als
alles andere fürchtet er, die Kontrolle oder seine persönliche
Autonomie zu verlieren. Er muß ständig auf der Hut vor äußeren
Mächten oder Autoritäten sein.