21.1.06

Über Genie und Wahnsinn

Anläßlich des bevorstehenden 250. Geburtstags von Wolfgang Amadeus Mozart (am 27.01.2006) möchte ich ein paar Gedanken hier niederschreiben, die mich bereits seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigen - nicht kontinuierlich, aber immer wieder. Es geht um die Frage: Wie entstehen Genies?

Dass Genies existieren, steht für mich außer Zweifel. Neben musikalischen Genies, für die Mozart das beste Beispiel ist, gibt es zum Beispiel naturwissenschaftliche Genies (Kepler, Einstein, Bohr, Heisenberg), geniale Maler (Bosch, van Gogh), Schriftsteller (Shakespeare, Tolkien), Strategen (Alexander der Große) und last not least geniale Raumfahrt-Konstruktuere (Wernher von Braun); sehr selten sind Universal-Genies mit mehreren Begabungen wie etwa Leonardo da Vinci. Bei von Braun und Alexander haben sicherlich einige Leser die Stirn gerunzelt, daher eine Randnotiz: ein Genie ist nicht unbedingt ein netter Mensch, oder gar ein Vorbild für andere. Im Gegenteil: einige Genies waren hervorragende Beispiele, wie man als Mensch nicht sein sollte. Aber das ist ein anderes Thema, und ich werde es vielleicht ein anderes Mal erörtern.

Wie wurden diese Genies zu Genies? Nun, da gibt es zwei Thesen. Gehen wir sie der Reihe nach durch:

These 1: Ein Genie entsteht alleine durch besondere Begabungen, also letzten Endes durch Erbanlagen.


Das kann man sehr einfach widerlegen. Einstein wäre bestimmt nicht der geniale Physiker geworden ohne seine physikalische Ausbildung in Schule und Studium, Mozart nie das Genie ohne seine Vorbildung als "Wunderkind" - angetrieben durch seinen Vater. Und auch Tolkien hat massiv von einem Bildungssystem profitiert.

Ein weiterer Fakt spricht dafür: unter den Genies befinden sich sehr wenige Frauen. Dabei haben Frauen genauso das Zeug zum Genie wie Männer. Die Ursache dafür liegt in der bis ins letzte Jahrhundert vorherrschenden Gesellschaftsstruktur, in der Frauen gegenüber Männern, was Bildungschancen betraf, benachteiligt werden. Darauf machte mich übrigens Harlan Ellison in einem Interview aufmerksam. Mich ärgert heute noch der Gedanke, dass irgendwo in der Geschichte der Menschheit ein weiblicher Mozart, eine Mozartin sozusagen, existiert hat, die aber ihre Begabung nie ausleben konnte, weil sie für irgendeinen Mann, der kein Genie war, Hausfrau spielen mußte.

Mit anderen Worten: Die Gene alleine sind's nicht. Das bringt uns zu

These 2: Ein Genie entsteht alleine durch eine entsprechende Ausbildung

Eine Zeitlang dachte ich tatsächlich, dass die Ausbildung alleine ausschlaggebend sei. Aber das wurde widerlegt durch eine spezielle Einrichtung: In Japan wurde im letzten Jahrhundert eine Schule für "musikalische Extrem-Früherziehung" gegründet. Nach dem Vorbild Mozarts wurden dort bereits Vierjährige im Geige- oder Klavierspielen unterrichtet. Diese Schule hat in den Jahrzehnten ihres Bestehens viele hervorragende Konzertpianiste etc.hervorgebracht, auch Komponisten (männliche wie weibliche), aber keinen einzigen Mozart. Damit wäre These 2 widerlegt.

Nach einigen historischen Forschungen, die u.a. die oben genannten Personen betraf, kam ich zu folgendem Schluss:

Kuhnlesches Genialitäts-Theorem: Ob ein Mensch ein Genie wird oder nicht, wird zur Hälfte durch seine Erbanlagen, zur anderen Hälfte durch seine Erziehung/Ausbildung entschieden


Daraus leite ich eine politische Forderung an das Bildungssystem ab: es muss so gestaltet sein, dass jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft, Hautfarbe etc., die Chance hat, seine Begabungen auszuleben. Zusätzlich zum "Normalbetrieb" im Bildungssystem - der auf keinen Fall vernachlässigt werden darf - müssen potenzielle Genies möglichst früh erkannt werden und eine Sonderförderung erhalten, z.B. in speziellen Musikausbildungsstätten wie etwa dem Mozarteum in Salzburg - womit wir wieder bei Mozart wären.

Bitte nicht falsch verstehen: ich fordere hier kein "Elitebildungssystem", das die normalen Unis ersetzen soll. Ich fordere sowohl-als-auch: Bildung für Nicht-Genies und spezielle Bildungschancen für Genies. BEIDES braucht unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft profitiert nämlich sowohl von gut ausgebildeten "Normalos" als auch von Genies.

Das Sprichwort "Genialität und Wahnsinn liegen nah beieinander" sehe ich ebenfalls als bestätigt. Viele Genies hatten einige Macken und Spleens, gerade Mozart kann da als Beispiel dienen. Durch extreme Begabungen in einem Bereich wird die Persönlichkeit starken Belastungen ausgesetzt. Nicht alle Genies halten das durch - der geniale Schachgroßmeister Bobby Fischer etwa schnappte nach seinem Sieg 1972 in Rejkjavik - über Boris Spasski - über, so dass er den Titel 1975 kampflos an Karpov verlor.